CHRISTOPH VALENTIEN HOME Pos1
Witz, "Schönheit", Perfektion, und Spiel - zu den Arbeiten Christoph Valentiens
von Rolf Krauss, (1995)



IM ROSENGARTEN, Rede zur Eröffnungam 26.5.2000,
von Steffen Bremer


TRAUTES HEIM, Alte Molke Breitenholz, Rede zur Eröffnung, 12.9.2004,
von Ulrich Pfarr


SEHnSUCHT, SWR Galerie, Rede zur Eröffnung am 7.11 2005,
von Ralf Christofori


RELOADED, Kunststiftung Erich Hauser, Rottweil, Rede zur Eröffnung, 30.6.2013,
von Heiderose Langer



RELOADED, Beitrag von SWR2, 4.7.2013,
von Rainer Zerbst











nach oben

JAPANISCH FÜR SIE, Katalogtext

Witz, "Schönheit", Perfektion, und Spiel - zu den Arbeiten Christoph Valentiens
von Rolf Krauss

Seit Duchamp ist es ein bekanntes künstlerisches Verfahren, alltägliche Dinge aus ihrer
gewohnten Umgebung herauszulösen und sie, solchermaßen isoliert, als etwas Neues,
bisher so nie Gesehenes zu präsentieren. So wird ans dem Urinoir eine Fontäne, aus dem
Flaschentrockner ein formal reizvolles, selbständiges Objekt. Seit dieser Zeit kann man
mit Berechtigung von einer konzeptionellen Kunst sprechen, einer Kunst, die sich im
wesentlichen im Kopf des Künstlers und des Betrachters abspielt. Das Kunstwerk selbst
ist eine Art Durchgangsstation, ein Auslöser, ein Anreger, ein Aufreger. Es verweist
weniger auf sich selbst, als auf eine Idee, die hinter ihm steht und der es seine Existenz
verdankt. Beim herkömmlichen Kunstwerk verwirklicht sich die Idee gewissermaßen
endgültig im fertigen Werk. Arbeiten der Konzeptkunst sind gewollt unfertig, sind
Fragmente der Idee, die erst durch die Mitarbeit des Betrachters in dessen Bewusstsein
vollständig entsteht.

Die Künstler der Concept Art der sechziger Jahre, die in der von Duchamp begründeten
Tradition stehen, bringen diese Vorstellung auf den (Null-)Punkt. Sie lehnen die
eigentliche Produktion eines Kunstwerks ab und geben nur noch Hinweise, wie es, wenn
überhaupt, ausgeführt werden könnte. Unter den benutzten Hinweismedien findet sich
auch die Photographie, die auf diese Weise mehr oder weniger zum ersten Mal in der
Kunst Verwendung findet. Damit die jeweilige Botschaft klar und deutlich herüberkommt,
wird in den Verweiswerken der Concept Art jeder ästhetische Anschein vermieden. Der
Betrachter soll bei seiner Gedankenarbeit nicht durch Äußerlichkeiten abgelenkt werden.
Die Photographie lässt sich diese Zwangsjacke jedoch nicht lange gefallen. Einmal von
den Künstlern als Medium entdeckt, entfaltet sie ihre eigenen spezifischen Möglichkeiten.
Spätestens in den achtziger Jahren macht sie der Malerei, was Farbe, Komposition,
Größe und Art der Präsentation anbetrifft, Konkurrenz.

Christoph Valentien ist ein konzeptioneller Künstler und er bedient sich der
Photographie. Als konzeptioneller Künstler macht er im Grunde nichts anderes, als was
Duchamp (und viele andere nach ihm) schon getan haben: er isoliert Gegenstände des
Alltags aus ihrem gewohnten Kontext und stellt sie so vor uns hin, dass sie neue
Assoziationen auslösen. Als Künstler, der mit Photographie arbeitet, profitiert er von den
Erfindungen und Entdeckungen der letzten drei Jahrzehnte, die die Photographie zu
einem allen anderen traditionellen künstlerischen Medien gleichberechtigten Medium
gemacht haben. Was also zeichnet Künstler und Werk aus? - Es ist die ganz besondere
Art und Weise, mit der konzeptionelles Vorgehen und Photographie verbunden werden.
Das soll an einem Werkbeispiel verdeutlicht werden.

Anlässlich eines Besuchs des British Museum in London entdeckt Valentien im
Museumshop Blechdosen, geeignet, Bleistifte und sonstige kleine Utensilien
aufzubewahren. Sie haben die Form einer ägyptischen Mumie und auf ihren Deckeln
finden sich farbige Reproduktionen von einigen der spektakulärsten Exponate des
Museums, die in einem der unzähligen Säle des Instituts den Augen der Besucher
preisgegeben sind. Die Originale, herausgerissen aus ihren Grabkammern, werden so
selbst schon als ästhetisches Objekt präsentiert. Die mit Hilfe der photographischen
Reproduktion gestalteten Dosen setzen diesen Prozess fort, biegen ihn allerdings um und
führen ihn zu einem Punkt, wo Faszination und Beliebigkeit im Kitsch zusammenfallen.
Valentien setzt die Photographie ein weiteres Mal ein. Er photographiert die Deckel dieser
Behälter und vergrößert die Aufnahmen auf die ursprüngliche Originalgröße der Mumien.
Die Vergrößerung ist aber kein Aufsichtsbild, sondern ein farbiges Dia, das vom Künstler
in die äußere Form einer Mumie und in einem aufwendigen Verfahren unter Glas gebracht
wird. Dieses Dia dient als "Deckel" eines metallenen, ebenfalls die Form einer Mumie
aufweisenden, Gehäuses. Es wird von einer in ein Gehäuse angebrachten elektrischen
Lichtquelle von hinten beleuchtet. („PHARAO")

Was ist geschehen? Zunächst ist der Vorgang der Präsentation, der in der
ursprünglichen Dose schon zweimal enthalten war, mit den folgenden
Reproduktionsschritten auf die Spitze getrieben, gewissermaßen pervertiert worden.
Dabei sind in den aufrecht stehenden, in der Dunkelheit des Ausstellungsraums
geheimnisvoll leuchtenden Mumienobjekten alle Bedeutungsebenen der
vorangegangenen Schritte noch enthalten. Die Entrüstung über die Entweihung der Toten
scheint noch durch, die heimliche Freude an der kitschigen Dose ist noch da, und dazu
kommt jetzt die Provokation, die die "Rückverwandlung" der Mumie auslöst: Unbehagen,
ob man so etwas machen darf, Überlegungen, ob damit ein bestimmter Zweck verfolgt
werden soll und wenn ja, welcher, und so fort. Das Kunstwerk hat seine Funktion erfüllt.
Das Objekt hat seine Botschaft ausgesendet, es hat uns zu eigenen Gedanken angeregt.
Die Idee ist herübergekommen.

Und dennoch unterscheiden sich die Arbeiten Valentiens in einigen wichtigen Punkten
von anderen konzeptionellen Hervorbringungen. Da ist zunächst der Witz hervorzuheben,
damit meine ich die Abwesenheit jeder didaktischen Absicht, aber auch die Freude an
den skurrilen Dingen des Alltags und die Unbefangenheit, mit der ihre Metamorphose
betrieben wird. Dieser Witz ist Ausdruck einer intellektuellen Ernsthaftigkeit. Witz (nicht
Witze) kann man sich nur erlauben, wenn man sich seiner sicher ist, wenn man eine feste
gedankliche Position hat. Dann wäre auf die "Schönheit" hinzuweisen, die alle Werke des
Künstlers auszeichnet. Ich habe den Begriff in Anführungszeichen gesetzt, weil man ihn
normalerweise nicht gebrauchen darf. Vor gar nicht allzu langer Zeit noch war die
Bemerkung, eine Kunstwerk sei "schön", eine Art Todesurteil. Valentien scheut sich nicht
davor, seine Objekte so ästhetisch ansprechend wie nur irgend möglich zu gestalten. Die
Photographie ist dabei ein besonders geeignetes Medium. Diese Strategie ist ganz
offensichtlich Teil seines Konzepts. Der Beschauer soll dadurch angelockt werden, sich
mit dem Werk zu befassen. Die glatte Oberfläche ist dabei eine Falle. Die Idee versteckt
sich hinter dem schönen Schein (die von ihr ausgehende Beunruhigung ist untergründig
aber immer vorhanden).

Eng mit diesem Befund verbunden ist die Perfektion, die in Ausführung und Präsentation
zum Ausdruck kommt. Valentiens Objekte sind mit großer handwerklicher Sorgfalt
hergestellt. Das betrifft sowohl ihre Planung, als auch ihre Ausführung. Ihre besondere
Präsentation ist Teil des Konzepts. Überlegungen, wie die Photographien gerahmt
werden, welche Größe die Objekte haben, welche Materialen (wie z.B. Plexiglas) zur
jeweils angemessenen Darstellung verwendet werden, welchen Abstand die einzelnen
Teile eines Ensembles von der Wand haben sollen usw., wird größte Aufmerksamkeit
,Geschenkt. Witz, "Schönheit" und Perfektion sind in unterschiedlicher Gewichtung in
allen Arbeiten Valentiens zu finden. Jedes neue Werk fordert den Betrachter auf, sich auf
ein weiteres Abenteuer einzulassen. Es ist eine Art intellektuelles Spiel, das der Künstler
mit uns betreibt, ein Spiel, das uns anregen soll, eine Strecke lang mit- und
nachzudenken. Im Vordergrund steht dabei nicht die Lösung einer bestimmten Aufgabe,
sondern die Aufforderung, einen möglichen Lösungsgang ausfindig zu machen.
Betrachten wir unter diesen Aspekten die Serie "Japanisch für Sie, Lektion 1-4".
Ausgangspunkt der Arbeit ist, wie fast immer, ein Fundstück aus der Alltagswelt, in
diesem Fall aus dem Spielzeugladen: ein aus Plastikmaterial gegossenes, filigranes
Netzwerk von einzelnen Teilen, die, zusammengeklebt, kleine Soldaten und militärisches
Ausrüstungsgerät ergeben. Die beiliegende Gebrauchsanweisung ist in japanischer
Sprache verfasst. Valentien vergrößert Text- und Plastikvorlage, letztere mit Hilfe der
Photographie, auf ein Vielfaches ihres ursprünglichen Formats und bringt sie per
Siebdruck auf zwei gleich große Plexiglastafeln auf. Die Tafeln werden nebeneinander an
der Wand montiert. Abstandhalter sorgen dafür, dass sie in gleicher Distanz vor dieser zu
stehen kommen.

Dieser Vorgang wiederholt sich vier Mal. Die einzelnen Bildpaare unterscheiden sich nur
insofern, als auf den Texttafeln unterschiedliche Worte oder Wortfolgen farbig
verschieden hervorgehoben, und die Tafeln, die die Plastikteile zeigen, verschiedenfarbig
unterlegt sind. Es entstehen ungemein reizvolle ästhetische Gebilde. Der uns
unverständliche Text verwandelt sich in graphische Kürzeln, die das Bildgeviert
gleichmäßig strukturieren. Die farbige Hervorhebung einiger dieser Kürzel akzentuiert
das Ganze. Diese Graphismen korrespondieren ihrerseits mit der Struktur, die die
photographierten Plastikteile bildet. Die gestochen scharfe Wiedergabe der Zeichen und
ihre schimmernde Erscheinung vor der Ausstellungswand sind auf die sorgfältige
Ausführung der Tafeln und auf ihre durchdachte Präsentation zurückzuführen. Sie
befriedigen das schönheitsdurstige Auge so sehr, dass man fast versucht ist, sich
abschließend abzuwenden und die Betrachtung zu beenden.

Aber wie bei den Mumienobjekten bleibt auch hier ein Rest, der einen nicht loslässt.
Warum handelt es sich um japanische Schriftzeichen? Warum lautet der Titel der Arbeit
"Japanisch für Sie"? Soll dies eine Art Anleitung (wie der Untertitel "Lektion 1-4" nahe
legt), für die Erlernung der japanischen Sprache sein? Was stellen die kleinen
abgebildeten Plastikteilchen eigentlich dar? Es sind Teile von Soldaten und Waffen. Es
handelt sich um Kriegsspielzeug! Warum wird uns das aber so groß präsentiert? Und
warum variiert der Künstler die Doppelanordnung vier Mal? Das kann nicht nur
ästhetische Gründe haben ...

Mit diesen oder anderen Überlegungen sind wir schon mitten im gedanklichen Spiel. Die
Absicht des Autors ist damit wieder einmal erreicht. Valentien konfrontiert uns bei aller
Perfektion und "Schönheit" seiner Objekte mit einem intellektuellen Fragment, das uns
auffordert, ja möglicherweise dazu zwingt, die Gedanken des Künstlers weiterzudenken
und es damit zu vervollständigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir so vorgehen, wie
dieser es geplant hat, ja nicht einmal, ob wir uns überhaupt auf ein solches Spiel
einlassen. Valentiens Arbeiten sind Köder, die er listig auslegt; es liegt an uns, ob wir
danach schnappen oder nicht. Die Köder sind als solche schon faszinierend genug, den
ganzen Reichtum ihrer Ideen entfalten sie aber erst durch unser Zutun.

ROLF H. KRAUSS



nach oben

IM ROSENGARTEN

Rede zur Eröffnungam 26 5 2000 :
Formuliert und performiert von Steffen Bremer

Meine sehr verehrten Damen und Herren.

Ich darf Sie ganz herzlich zur Ausstellungseröffnung von Christoph Valentien begrüßen. Ich möchte voranschicken ,daß ich ein sehr ungeübter Ausstellungseröffner bin .Gleichwohl ist mir die Problematik eines solchen Tuns sehr wohl bewußt. Sehr gerne indessen, habe ich die Einladung von Christoph Valentien angenommen, um in dieser Weise seine Arbeiten zu besprechen. Besonders auf die Werkgruppe die uns hier in diesem Raum unmittelbar umgibt, soll im Folgenden eingegangen werden. Man braucht nicht besonders aufgeschlossen oder verklemmt zu sein um den möglichen Zündstoff unmittelbar zu erkennen. Die erste Reaktion dürfte ein reflexhaftes Naserümpfen bei dem optisch Dargebotenen sein. Dabei kann es nicht bleiben. Ich möchte 7 Zugangsformen präsentieren, die aus unterschiedlicher Warte heraus auf die Bilder eingehen, mit Texten die sowohl verlesen, als auch projiziert werden.

ZUGANG über den ZUGANG.

Sie haben, um hierher in diesen hinteren Raum zu gelangen zwei Austellungsräume durchschritten, die gewissermaßen als Einstimmung zu verstehen sind. In umgekehrter Richtung natürlich ebenso. Sie wurden mit dem Rosengarten empfangen. Sogenannte Oblaten für das Poesiealbum, die photographisch äußerst aufwendig aufbereitet sind. Sie repräsentieren einen Grenzfall der Ästhetik, nämlich den Kitsch, mit dem sich Christoph Valentien über die Jahr hinweg sehr intensiv auseinandergesetzt hat. In unserem Zusammenhang muß hier von einer völlig überdüngten Ästhetik gesprochen werden, zu nitrathaltig, überzuckert, kurzum visuell zu nährstoffreich. Die Werkgruppe der chinesischen Gärten ist farblich abgedimmt. Aber das Ornament als Verbrechen ist weiterhin in Kraft. Der Schritt nun aus der floralen Durchmusterung und ihrer Versachlichung in diesen Fäkalraum gestaltet sich nicht ganz reibungsfrei. Im Film würde man sagen.-Das Bild springt. Mir fällt hierzu das buddhistische Gleichnis von der Lotosblüte ein. Eine Blüte von außerordentlicher Schönheit, deren Wachstumsbedingungen aber unmittelbar an den fürchterlich stinkenden Schlamm der Teiche gebunden ist. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Deshalb können die stillen Örtchen in röm. kath. Kulturkreisen durchaus mit Röschentapeten versehen sein, während im Pietismus der Geruchsentwicklung mit puristisch geweiselten Wänden begegnet wird. Eine eingehende Erörterung dieser vorangehenden Arbeiten allerdings würde hier zu weit führen. n ihrer Gesamtheit sind sie inszenatorisch als ein Parcour zu verstehen, der die Betrachter initiiert, d.h. beim Betrachter wird ein Initiations-Ritual vollzogen in die bunteren Bildwelten von Christoph Valentien hinein, um einigermaßen gewappnet dem Fäkalienbestand gegenübertreten zu können.

ZUGANG: FÄKALIEN /Rekurs auf die Kunstgeschichte.

Beim Stichwort Fäkalien denkt man im Zusammenhang von "Moderner Kunst" unwillkürlich an den italienischen Künstler Piero Manzoni. Eine seiner maßgeblichen Arbeiten war betitelt "merde d’artista" /Künstler-scheiße. Man hat ein kleines Döschen vor sich in der Größenordnung der legendären Bärenmarke Kondenzmilchdose. Ein Etikett gibt Aufschluß darüber, daß sich in seinem Inneren die Fäkalien des Künstlers befinden. Das Werk eignete sich bestens als Auflagen-Objekt. Zuverlässig konnten mit diesem Werk die wichtigsten ästhetischen Errungenschaften der 60 er Jahre abgerufen werden. Seine vielschichtigen Bedeutungen, die man in jedem Standardwerk nachlesen kann verblassten allerdings vor seiner skandalösen Werkkomponente. Das war nicht anders zu erwarten. Seither haben sich die Genres weiter explosionsartig erweitert und jeder Gegenwartskünstler findet sich in der postmodernen Situation wieder, wonach man die ausgetretenen ästhetischen Spurrillen nur noch mehr oder weniger intelligent weiter vertiefen kann. Daran
ändern auch die neuen Medien nichts. Es ist deshalb auch nichts ehrenrühriges situativ Piero Manzoni als Ahnherrn für die besagte Werkgruppe Christoph Valentiens anzurufen, obwohl Christoph bei der Arbeit sicher nicht im entferntesten an ihn gedacht hat.

DER PERSÖNLICHE ZUGANG.

Wir sehen uns zurückversetzt in die beginnenden achziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der Kunstbetrieb steht vordergründig unter der Leitparole des Hungers nach Bildern. Tatsächlich wie heute auch, laufen vielerlei Kunstgattungen nebeneinander her. Eine Gruppe junger Kunststudenten unternimmt eine Autofahrt an die damals noch existierende innerdeutsche Grenze. Der eiserne Vorhang wird von ihnen als eine besonders bizarre Form der "and art" verstanden, die mes auf verschiedene Weise zu erkunden gilt. Diese Kunstreise hat ihre eigene Struktur, die geprägt ist von der Fahrt entlang der Grenze über Bayern nach Hessen, mit den immer wiederkehrenden Anfahrten in die Sackgassen der unterbrochenen Verkehrsverbindungen Richtung Osten. Eine massgebliche Episode spielt sich auf einem hölzernen Aussichtsturm ab . Dort ist ein Brett aus dem Boden gelöst und öffnet den Blick in schwindelerregende Tiefen .Die Architektur wird augenblicklich als ein der Grenze angemessenes Abort begriffen und -benutzt .Die durch die Erdanziehung erfaßten Fäkalien werden in der Weise beschleunigt, wie auch der damals gern gelesene Philosoph Paul Virilio die Beschleunigungsphänomene unter die Lupe nahm. Auch war uns damals nicht bewußt, daß wir die Ästhetik Piero Manzonis lediglich zeitgemäß weitergetaktet hatten

ZUGANG über die VORAUSSETZUNGEN

Ein wesentliches gedankliches Fundament für diese Arbeit ist nicht zufällig das Medium Film, und zwar ein populärer Hollywood Film von Bertolucci: Der letzte Kaiser. In einer Schlüsselszene untersuchen die Hofbeamten den kaiserlichen Kot. Sie benutzen ihn wie heute auch zur medizinischen Diagnostik, aber nicht in dem sie mit wissenschaftlicher Akribie in seine chemischen Bestandteile eindringen, sondern über den direkten sinnlichen Zugang. Hierdurch wird offenbar ,daß auch ein menschliches Ausscheidungsprodukt, "%de die Scheiße, ein sehr ergiebiger Informationsträger sein kann, der lesbar ist, wie in unseren Kulturzusammenhängen das Buch. Unterfüttert werden diese Erkenntnisse mit den Informationstheorien von Vilém Flusser. So können die Umwälzungen in der Gesellschaft als permanente Datenübertragungen verstanden werden. Wenn also die Kanalisation als Datennetz begriffen werden kann, muß dies auch Auswirkungen auf eine ästhetische Bearbeitung des Sujets Scheiße haben.

ZUGANG über den Entstehungsprozess

Wie so häufig in unserer mediatisierten Welt trügt der erste Eindruck fast immer. So auch hier. Das fäkale Abbild und sein Informationsgehalt hat eine äußerst komplexe Entstehungsgeschichte. Von Beginn an intendiert Christoph Valentien einen digitalen Zugriff auf das Sujet. Zur Bilderfassung muß das stille Örtchen in ein Fotostudio umgewandelt werden. Es wird hierzu eigens eine digitale Kamera angeschafft, diese Toilettenkamera ist hier fest stationiert. Der Arbeitsprozess liest sich wie folgt. Der täglichen physischen Entleerung folgt die unmittelbare digitale Aufladung. Die physische Masse wird zur Datenmenge. Ist das Fassungsvermögen der Chip-Karte in der Kamera erschöpft, wird der Datenbrei auf die Festplatte des Computers geladen. Somit kann die Speicherkapazität der digitalen Aufzeichnungstechnik im jahrelangen archivarischen Prozess zum Tragen kommen. Die Relikte werden datiert und in einem weiteren Verarbeitungsschritt "freigestellt'. Dieser wesentliche ästhetische Eingriff enthebt den Kot aus der tendenziösen Kloschüssel in den neutralisierenden , weißen Hintergrund. In dieser Phase ist der Titel "OHNE TITEL" mehr als zutreffend Entstandenden ist ein ästhetisches Gebilde von äußerster naturalistischer Präzision , welches in alle Richtungen interpretierbar wäre, aber in der Titelgebung auf den formalen Eigenwert verweist. In der nun folgenden Operation wird eine weitere Eigenschaft des Computers verwertet: seine unbedingte Neutralität. Die Maschine per se hat keine moralischen noch sonst wede Skrupel noch Vorbehalte. Bei dem Versuch also den Fäkalien konkrete Informationen abzugewinnen wird der Computer ohne Ressentiment verfahren. Bei seinen Vorüberlegungen findet Christoph Valentien in der Chinesischen Schrift das Refferenz-System, welches ebenso im Übergangsfeld von Bild und Schrift angesiedelt ist. Das gespeicherte Fäkalienbildmaterial wird mit der chinesischen Schrift zu einem digitalen Abgleich gebracht. Dies ist möglich über das sogenannte OCR,- die "OPTICAL CARACTER RECOGNITION. Sind die Fäkalzeichen über die OCR-Übertragung zu chinesischen Zeichen transformiert, steht als nächster Schritt die Lesbarkeit der Zeichen, also die Übertragung in die Deutsche Sprache an. Die digitale Ebene muß hierzu verlassen werden. Der Bildschöpfer und der Sprachwissenschaftler machen sich nun mit Hilfe des analog arbeitenden Wörterbuches gemeinsam daran aus der Schrift eine Information abzuleiten.

Mein ZUGANG über das Ergebnis.

Wenn ich meinen Erkenntnisapparat vom weichen Realismus der Abbilder abgekoppelt habe, erkenne ich eine reiche Vielfalt an malerischen Gesten. Die deftige Pastosität im formalen Gegensatz vielleicht zu einer Tuscheserie eines Zen-Adepten. Zum amorphen Figur-Grund-Verhältnis gesellt sich der Zahlen-Tages-Code in objektivierender Weise. Der Abgleich in die chinesische Schrift und die Übertragung in die deutsche Sprachbedeutung mit ihrem Sprachduktus einer Weissagung stellt eine unmittelbare Verbindung zum I-Ging her. Wenn bei dem chinesischen Weisheitsbuch in der Variabilität von 64 Grundzeichen ein ganzer Menschheitskosmos entworfen wird, so geschieht hier die zeittypische Zeichen-Explosion aus dem Alltagsstoffwechsel heraus. Die Aussagen beinhalten eine hohe Absurditäts-Qualität, die für mich jederzeit goutierbar ist. Auch daß man hier zwangsläufig in einem chinesisch inspirierten Ganzheitskosmos eintritt, hat seine ganz alltäglichen Trivilitäts-Entsprechungen so breitetet sich bei meinen Oberstufenschülerinnen geradezu endemisch die Mode aus sich ein chinesisches Tatou auf die Wirbelsäule stechen zu lassen. Besonderer Beliebtheit erfreut sich das Zeichen für :LEBEN.

ZUGANG über eine Einbettung in das Zeitgeschehen.

Die vorliegende Arbeit , mit ihrem notorischen Work-in-progress-charakter, begonnen 1997, mündet in ein kulturelles Klima, in welchem Sloterdijk Zitat: "einen übermächtigen Trend zur Umorientierung der Medien von Information auf Erregungsproduktion" konstatiert. Gekoppelt an diese Entwicklung ist die Aufweichung einer wie auch immer gearteten Privat-Späre, erkennbar an Phänomenen wie "Big brother" und netzspezifischen Voyeurismen. Das diese Arbeit für mich in diesen Kontexten steht, und nicht nur Kunstimmanente Diskurse abklappert, ist ein erstes Qualitätsmerkmal. Sie unterliegt auch nicht dem kunststrategischen Trugschluß Tabubereiche nur immer weiter zu verschärfen, der allgemeinen Desorientiertheit im Betriebssystem Kunst eingedenk, den eigenen Darminhalt zeitgemäß aufzutischen. Ganz augenfällig geht sie auch nicht konform mit den Befehlsausgaben unsichtbarer Kuratorennetzwerke und Kunstforen. Nachdem also hinreichend gesagt ist, was auf diese Arbeit alles nicht zutrifft, läßt sich ihre Kernqualität auf ein Prädikat zuspitzen, nämlich auf jenes der Intelligenz, auf ihre starke BILD- und ZEICHEN-INTELLIGENZ. Diese Eigernschaft ist möglicherweise überhaupt die letzte Stärke welche der von den Medien chancenlos abgehängten Kunst verblieben ist, um einer totalitären Medienwirklichkeit Paroli zu bieten.

Steffen Bremer


nach oben



Rede zur Eröffnung
TRAUTES HEIM, Alte Molke Breitenholz, 12. 9 . 2004

Sehr geehrte Damen und Herren, liebes Publikum, Sie sind heute Teil eines künstlerischen
Experiments geworden, das ohne Ihr Kommen nicht mög lich gewesen wäre!
Treffend hat der Schriftsteller Stephan Wackwitz kürzlich fes tgestellt, der Club sei zur
kulturellen Leitmetapher unserer Zeit geworden. Doch was ist ein Club? Der Club ist ein
trautes Heim, oder anders gesagt: der Club ist ein Ort an dem man zuhause und doch nicht zu Hause ist, wo man auf bekannte und unbekannte Gesichter blickt und wo dennoch behagliche
Sessel, kuschelige Kissen, anheimelnde Tapeten und schwere Bilderrahmen für häusliche
Vertrautheit sorgen. Hier findet sich all dies und noch manches Andere wieder. Nun befinden
wir uns zwar in einer Galerie für Photokunst, aber der Stuttgarter Künstler Christoph
Valentien hat diesen Ort gewissermaßen in ein traut es Heim verwandelt . "Wo bleibt hier die
Photographie"? könnte man zunächst frag en, denn das einseitige Verhältnis von Bild und
Abbild, das der dokumentarischen Photog raphie zu Grunde liegt, ist dem Schaffen Valentiens
nahezu fremd. Seine Arbeiten öffnen sich dem Dialog zwischen Flächen und Gegenständen,
Bild und Ornament, künstlerischer Insta llation und vorgefundener Umgebung. Wenn die
solchermaßen bespielt e Galerie zugleich öffentlicher Tref fpunkt und privater Wohnraum ist,
wird dies e Auflösung eines hermet ischen Werkbegriffs unmittelbar erfahrbar. Für Valentien
lag es sicherlich auf der Hand, sich gerade hier ein trautes Heim einzurichten; doch er treibt
seine Untersuchung der Grenzflächen zwischen öffent lich und privat noch eine Stuf e weit er, wie Sie bemerken werden, wenn Sie dem Künstler heut e selbst beg egnen. Denn sein J ackett gerät zur Mimikry und lässt seinen Träg er eintauchen in die flo ralen, marit imen und
allzumenschlichen Formenwelten, die sich großflächig an den Wänden entfalten. Dies sei ein
ers ter Hinweis auf den trüg erischen Charakter des Anscheins trauter Häuslichkeit. Hier geht
es nicht nur um den künstlerischen Eingriff in die Wirklichkeit , es geht auch um Täuschung
und Verführung. Damit liegen die aktuellen Arbeiten Valentiens in der Konsequenz seines
Schaffens . Schon seit den 1990er Jahren waren seine Kunstwerke zugleich Att rappen, die
pho tographischen Verf ahren nutzen sie für den lockenden Anschein der Wirklichkeit . Sie sind daher selbst nicht photographisch reproduzierbar.

Der Künstler sagt selbst, er verwende nur "öffentliche Bilder" – das darf man nicht zu eng
fassen: sein Rohmaterial sind Bilder, die zum Download im Internet bereitst ehen oder in
Kunstbüchern abgedruckt sind; es sind Motive, die s ich in ehrwürdigen Bibliotheken finden
könnten, die uns mit Prospekten ins Haus flattern, hinter schwarz gefärbten Scheiben verkauft werden oder die porno graphischen Welten des Internets bev ölkern. Als zentrale Bild- und Inspirationsquelle Valentiens zu nennen sind jedoch die Kunstformen der Natur des
Naturforschers Ernst Haeckel; jenes 1899-1904 erschienene Tafelwerk, das auf die Ornamentik des Jugendstil größten Einfluss ausübte. Schon Haeckel selbst verknüpfte die an Tieren, Pflanzen und Mikroo rganismen erkannte geometrische Stereometrie der Einzelformen auf seinen Abbildungen zu streng rhythmisiert en und symmetrischen Mustern. Die kristallinen und fraktalen Formprinzipien Haeckels finden sich nun bei Valentien ebenso wieder wie einzelne Quallen, Radiolarien und Polypen aus dem bizarren Musterkatalog des
Bio logen und Meeresforschers. All diese Motive werden von Valentien freigestellt – ein
Vorgang der Bildbearbeitung, der auch bei der Herst ellung von Druckerzeugnissen und
Animationsfilmen eine Rolle spielt – und dann auf verschiedene Weise vervielfältigt,
schattiert, überblendet und komponiert. Obwohl die Poetologie Valentiens damit dem
Paradigma der digitalen Pho tographie konsequent folgt und die Unterscheidung von Original
und Kopie auflöst, bleibt die vermeintliche Abbildungsfunktion der analogen Photo graphie
hier relevant. Denn alle Gegenstände – auch jene, die uns vielleicht besonders zu affizieren
oder zu befremden vermögen – tragen den Charakter des Reproduzierten, künstlich
Gewordenen oder künstlich Geschaffenen. Als verbotene Kopien, als manipulierte Abbilder
wirken diese Mo tive auf die Wirklichkeit zurück. Schon die Posen baro cker Gartenskulpturen
scheinen innerbildlich zur kitschigen Bordelldekoration zu verkommen; tatsächlich halten sie
mit ihrer weiteren Transformation ins Detail dann noch eine Überraschung bereit. Aus der
Dis tanz betrachtet wiederum ordnen sich Pflanzen und Figuren im ornamentalen Rapport zur
abs trakten Geometrie. Besonders deutlich wird der artifizielle Charakter aber an den
Plexiglas -Objekten. Dies sind höchst aufwendig gefertigte Reproduktionen selbstklebender
Dekorblumen, deren in Druckpunkte zerlegte, abphotographierte und wiederum gedruckt e
Farbigkeit artifiziell schillert, geradezu von neuem aufblüht. Zu erwähnen sind auch die
grobkörnigen Konturlinien der auf karges Schwarzweiß reduzierten "Strapse", die zu
zweidimensionalen Bildzeichen werden und dennoch gewisse Eigenheiten ihrer Vorlag en
bewahren. Auf diese Weise s tellt sich die Frage nach der Urheberschaf t: Liegt sie bei der
Aufnahme oder etwa beim Gebrauch, bei der Erzeugung oder erst beim Zeigen der Bilder?
Mit den Mitteln digitaler Bildverarbeitung radikalisiert Valentien also die konzeptionelle
Photokunst der 70er Jahre, die den küns tleris chen Akt bereits weitgehend auf das
Vervielfältigen, Verfremden und Vorführen von Photo graphien verlagert hat. Und
überraschenderweise gelangt er damit erneut zu handwerklichen Verfahren, nicht nur des
materiellen Verarbeit ens und Herrichtens der Bilder: Vor allem auch des minutiösen
Entwerfens und Komponierens von ornamentalen Ordnungen am Bildschirm, die den Geist
des Barock, des Jugendstil und eines postmodernen Allover aufgenommen haben. Darin
äußert sich künstlerische Ernstha ftigkeit, und dennoch können wir die aug enzwinkernden
Momente des Spiels, des Scherzes, ja der Überrumpelung des Betrachters schwerlich
übersehen. Ihre stimmige Äs thetik gibt die Wandinst allationen a ls harmlose Tapeten aus, die auf gesetzten Rahmen j edoch dürften zumindest stutzig machen. Was ist hier Form, was ist Inhalt? Im trauten Heim erweist s ich die Grenze zwischen Lebens raum und Galerie, zwischen Kunstwerk und Kunstraum als willkürlich gezogen. Es sind vorgefundene Systeme, wie Bilderrahmen, Tapeten und Sofakissen, die Bedeutung generieren, indem sie zwischen
potentiell ins unendliche wiederholbaren Strukturen und geschlossenen Welten abgrenzen. In diesen Kosmen kann sich das Publikum jedoch frei bewegen und soll es auch, wie Valentien selbst immer wieder betont. Das gleiche Ornamentmotiv kann daher gegenständlich, als Bild, und abstrakt, als flächenfüllender Rapport wahrgenommen werden. Jede Veränderung der Betrachtungsperspektive erzeugt unterschiedliche Wahrnehmungen und möglicherweise ganz gegensätzliche emotionale Wirkung en. Überwiegt aus der Distanz die Gediegenheit und
Harmonie der Farben und Formen, so entbirgt der unmittelbare Nahblick so manches
Einzelmotiv, das mindestens zu überraschen, wenn nicht so gar zu befremden oder zu empören vermag. Auf diese Weise kann Heiterkeit in Abwehr und Ekel, oder aber in lustvolles Genießen umschlagen.

Kopulierende Paare, erigierte Phalli und aufgeblätterte Vaginen sind Motive, die uns aus der Nähe bedrängen, und die gerade auf der Tapete oder auf dem Sofakissen nicht am richtigen Platze sind, denn dort treff en sie ja auch auf die Blicke unserer Besucher. Aber immerhin, der Künstler hat diese Motive so listig versteckt, das man sie beinahe noch verdrängen und verleugnen könnte. Mit der einlullenden Ästhetik dieser Installationen erweist sich auch die bürgerliche Behaglichkeit des trauten Heims als eine Frage des richtigen Abstands . Dies rührt an die psycholo gische Janusköpfigkeit j eglicher Ornamentik: Stets spielt das Ornament mit den Reizen der Natur, aber in seiner Stilisierung hält da s Ornament die Natur zug leich in sicherer Distanz. Folgt man hier Sigmund Freuds berühmter Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" von 1930, so entlarvt Valentien unter der rationalen Oberfläche ornamentaler Ordnungen deutlichste Verweise auf eine beunruhigende Triebnatur des Menschen. Seine Erweiterung der Wahrnehmung in die Lusträume des Internet gerät damit in Analogie zu den Mikroskopen Ernst Haeckels, sie führt vom Bewusstsein ins Reich unbewusster Phant asien. Freilich trifft man in dies er Unt erwass erwelt keine unberührte Natur an, sind doch die Triebe als wissenschaf tliches Erklärungsmodell längst in Zweifel gezog en worden. Triebhafte Wünsche des Menschen haben sich vielmehr als ebenso gesellschaf tlich bestimmt erwiesen wie jene Differenz von Natur und Kultur, die Valentiens Arbeiten so nachdrücklich ins Bewusstsein rufen.

Kehren wir also zurück zur Aktualität des Clubs und damit auch zur Frage der Intimität.
Zwischen der fortschreitenden Ökonomisierung des Leibes und der Aufhebung von Intimität
in den Massenmedien bestehen Zusammenhänge, die im Licht der Photographie sichtbar
werden können. Wenn Durchschnittsbürger dem nachmit täglichen Fernsehpublikum ihre
sexuellen Obses sionen beichten müssen und prominente Moderatorinnen dann im
Abendprog ramm ihre Silikonbrüste wiegen, sind dies gewiss neuere Phänomene. Doch von
Anfang an hat die Photographie die Körper virtuell verdoppelt und medialisiert; mit den
dig italen Bildmedien wird diese kommerzielle Verwertbarkeit des Körpers nur noch
gesteigert. Erst die stereotypen Erzeugnisse der Pornoindustrie bring en die Gewinninteressendeutlich zum Vorschein, die weite Bereiche der heut igen Bilderwelt determinieren. In den Arbeiten Valentiens wird nun dieser Mechanismus außer Kraft gesetzt, denn er löst gerade solche Motive aus eindeutig en Zusammenhängen und setzt sie frei. Nicht die erotischen Bilder, sondern die ornamentalen Systeme fungieren als Köder, und dem Publikum bleibt es freigestellt, sich auf ihre Verlockungen einzulassen. Darin liegt die zentrale Aussage dieser Arbeiten: Valentien transportiert keine vorprogrammierten Botschaften, sondern gibt Denkanstöße. Es ist an Ihnen, die Grenzüberschreitungen des trauten Heims als Provokation, als Scherz oder als geistvolles Spiel aufzufassen. Dazu möchte Ihre Aufmerksamkeit nun entlassen!

ULRICH PFARR



nach oben


SEHnSUCHT
Rede zur Eröffnung am 7.11 2005 im SWR Funkhaus Stuttgart

Gleich vorab: Es ist eine Ausstellung, die in Bewegung hält – und zwar
körperlich wie geistig. Körperlich, weil Sie als Besucher weite Wege
zurücklegen müssen, um all diese Arbeiten sehen zu können; aber auch, weil
diese Arbeiten unterschiedliche Abstände einfordern: Sie müssen sich darauf
zu bewegen und wieder von ihnen entfernen; Sie werden von ihnen
angezogen und wieder aus ihnen hinauskatapultiert; manchmal werden Sie
krampfhaft versuchen, Ordnung ins Chaos zu bringen; dann wieder werden
Sie Ordnungsmuster erkennen, die doch nur zufällig zustande gekommen
sind. Dabei kommt es ganz entscheidend darauf an, was Sie, meine Damen
und Herren, sehen. Deshalb werde ich Ihnen nicht vorschreiben, was Sie hier
sehen sollten. Ich kann Ihnen lediglich einen persönlichen Eindruck davon
vermitteln, was Sie in dieser Ausstellung von Christoph Valentien erwartet:
Unerwartetes nämlich.

Christoph Valentien ist ein Künstler, der sehr ernsthaft über seine Arbeit
redet. Wenn man mit ihm redet, lacht er zwischendurch laut auf, weil er sich
über seine eigenen unerwarteten Gedankengänge amüsiert. Genau so
funktioniert auch seine Kunst. Und genau so geht es uns, wenn wir seiner
Kunst begegnen. Entsprechend ist die künstlerische Sehnsucht oder
Sehsucht, die Valentien als Titel dieser Ausstellung gewählt hat, ernst und
fröhlich zugleich. Zum Beispiel im Fall der „Großen Fuge“, die, wie Christoph
Valentien erzählte, schon während des Aufbaus hier im SWR recht viel
Aufmerksamkeit erregte. Das musikalische Kompositionskunststück der Fuge
findet darin seine Entsprechung im einem Klang, der eher Geräusch denn
Musik ist. Das Geräusch stammt von Waschmaschinen, die sich – im
Rhythmus verschiedener Waschgänge – einfach nur vor einem betrachtenden
Auge drehen. Man sieht die gläserne Öffnung der Trommel, das bewegte
Motiv verschiedenfarbiger Wäschestücke, und das alles auf aneinander
gereihten Fernsehbildschirmen. Der banale Waschgang wird zum Erlebnis,
die Fuge zu einem scheinbar systematischen Klang.

Ganz anders hingegen funktionieren die sehnsuchtsvollen Klänge, die Sie
vielleicht mit dem rechten Ohr aus der unteren Etage vernehmen. Gespielt
wird dort die Ouvertüre zu Wagners Tannhäuser. Man folgt dem vertrauten
Klang dieser sinfonischen Dichtung, die üppig und erregt zwischen irdischer
und himmlischer Liebe changiert; man durchlebt die an- und abschwellenden
Harmonien vom Fuß des Venusbergs bis zum Gipfel und wieder hinab – und
steht dann plötzlich vor einem Bild, das profaner nicht sein könnte: den
Sängerwettstreit macht ein einzelnes nichtiges Wesen mit sich selbst aus,
der Künstler nämlich auf einem Fitnessrudergerät. Mühsam, aber beharrlich
bewegt er sich fort, vorbei an einem Straps, der auch ein romantischer
Pavillon sein könnte; auf halber Strecke blickt der Künstler kurz auf, in den
unsichtbaren Schoß, und rudert dann weiter – raus aus dem Bild, bevor er
dann rechts wieder von vorn beginnt.

Die Lage ist ernst, aber fröhlich. Sie ist ernst, weil Christoph Valentien mit
unseren Sehnsüchten und Erwartungen spielt. Und sie ist fröhlich, weil er
uns klar macht, dass diese unsere Sehnsüchte und Erwartungen in seinen
Arbeiten nicht automatisch wie eine Art selbsterfüllende Prophezeiung
eingelöst werden. Stattdessen gibt er den scheinbar vertrauten Bildern und
Klängen eine unerwartete Wendung. Die feinen Papierblumen, die wir als
Kinder und Jugendliche in die Poesiealben unserer besten Freundinnen
geklebt haben, werden unter Christoph Valentiens Hand zu monumentalen
Plexiglasornamenten. Direkt nebenan sehen Sie eine Arbeit aus Valentiens
Serie „Das Ding an sich“: 16 Holzpanele in unterschiedlicher Maserung
hängen dort und beschwören tatkräftig jenen Schein, den man dem „Ding an
sich“ gerade nicht unterstellt. Tatsächlich hat Christoph Valentien hier
Abbildungen aus einem „Handbuch zum Malen von Holz“ abfotografiert,
vergrößert, um schließlich das kunstvolle Imitat wieder der Kunst zurück zu
gegeben.

Wie gesagt: Was und wie viel Sie, meine Damen und Herren, in diesen Werken
sehen, hängt ganz von Ihnen ab. Dabei fällt es nicht immer leicht, das was
man sehen will, auch wirklich zu sehen. Das gilt für Valentiens „ungesehene
Bilder“: Fotos, die – aus der Hüfte geschossen – durch Bewegung und
Unschärfe all das einfangen, was man mit bloßem Auge nie sehen würde. Und
es gilt auch für die über Ihnen schwebenden Kissen. Wenn Sie diese
harmlosen Kissen näher betrachten, werden Sie allerlei Botanik und Erotik
entdecken. Die delikaten Details aber bleiben aus der Entfernung Ornament.
Und da wird es Ihnen auch nichts nützen, wenn Sie das weiter hinten
platzierte Münzfernrohr zu Hilfe nehmen. Denn dieses Fernrohr ist so
eingestellt, dass es erst ab 20 Metern scharf stellt. Dafür können Sie durch
das Münzfernrohr erkennen, was es mit der Hirschkuh und dem röhrenden
Hirschen auf sich hat, die in einiger Entfernung am anderen Ende des
Korridors hängen.

Auf diese Weise bringen es Christoph Valentiens Arbeiten immer wieder
fertig, die Seh- und Sehnsüchte der Betrachter auf sich zu ziehen und
gleichsam in Frage zu stellen. Und er macht das sehr geschickt. Denn seine
Kunst hat nicht allein das Bild oder Objekt als solches zum Thema, sondern
das Bild oder Objekt als Projektionsfläche eines Betrachters. Sie werden das
System der Konzertsaalbestuhlung erkennen, das der großen Arbeit direkt
hier gegenüber zugrunde liegt. Gleichzeitig werden Sie Zeugen einer intimen
Sphäre, wenn Valentien die eigentlichen Sehnsüchte dieser so genannten
Kulturgänger entblößt. Das ist befremdlich. Und das ist auch gut so. Sie
werden vielleicht den Kopf schütteln, manchmal werden Sie sich wundern.
Und im besten Falle werden Sie sich nicht nur fragen, was Sie da sehen,
sondern auch wie Sie sehen.

Vieles an dieser Konstellation und vieles an dieser Ausstellung von
Christoph Valentien erinnert an das sehr eindrückliche Ende von Hermann
Hesses „Steppenwolf“. Dort taucht eine Figur namens Pablo auf, und dieser
Pablo könnte durchaus Christoph Valentien sein. Wie eine Art
psychologischer Conférencier führt Pablo den Romanhelden Harry
Steppenwolf durch seine Welt – ein Theater mit unendlich vielen Logentüren.
„Mein Theaterchen“, erklärt Pablo, „hat so viele Logentüren, als ihr wollt,
zehn oder hundert oder tausend, und hinter jeder Tür erwartet Euch das, was
ihr gerade sucht. Es ist ein hübsches Bilderkabinett, lieber Freund, aber es
würde Ihnen nichts nützen, es so zu durchlaufen, wie Sie sind. Sie würden
durch das gehemmt und geblendet werden, was Sie gewohnt sind, Ihre
Persönlichkeit zu nennen. Ohne Zweifel haben Sie ja längst erraten, dass (...)
die Erlösung von der Wirklichkeit und was immer für Namen Sie Ihrer
Sehnsucht geben mögen nichts anderes bedeuten als den Wunsch, Ihrer so
genannten Persönlichkeit ledig zu werden. (...) Sie werden darum eingeladen,
sich dieser Brille des Steppenwolfes zu entledigen und diese sehr geehrte
Persönlichkeit freundlichst hier in der Garderobe abzugeben, wo sie auf
Wunsch jederzeit wieder zu Ihrer Verfügung steht.“

Meine Damen und Herren, Sie müssen sich in dieser Ausstellung natürlich nicht
wirklich Ihrer Garderobe oder Ihrer Brillen entledigen. Im übertragenen Sinne schon.
Denn Sie werden nicht darum herumkommen, sich in Christoph Valentiens
„Bilderkabinett“ immer wieder zu fragen, ob das, was Sie gewohnt sind zu sehen,
auch tatsächlich das ist, was Sie hier sehen. Ganz gleich, ob Ihre Sehsucht oder
Sehnsucht in diesen Arbeiten eingelöst wird oder daran scheitert – es liegt an Ihnen,
sich die Freiheit zu nehmen, die Dinge anders zu sehen. Denn genau das macht
Christoph Valentien ja auch: wenn er die Ouvertüre zu Tannhäuser mit dem Bild eines
bedauernswerten Trockenruderers unterlegt; wenn er die große Fuge im
Hauptwaschgang verwirbelt oder wenn er das „Ding an sich“ als perfektes Mimikry
seiner selbst inszeniert. Öffnen Sie also die vielen Logentüren zu Christoph Valentiens
„Bilderkabinett“ – und überlegen Sie sich gut, ob Sie tatsächlich das sehen, was Sie
suchen.

RALF CHRISTOFORI

nach oben



Ausstellung  RELOADED

Projekt „Kunst machen“, ein Fotoprojekt von 1986 und neue Arbeiten

Solo für Hauser - Blick zurück und in die Gegenwart

Im Archiv der Kunststiftung habe ich vor einigen Jahren, als ich die erste Ausstellung, die hier in den Räumen der ehemaligen Werkstatt stattfand, zusammenstellte, Porträtfotografien von Erich Hauser gefunden, die Christoph Valentien angefertigt hat und die mir wegen der besonders Aufmerksamkeit, die er auf die gestaltenden Hände des Künstlers legte, ins Auge fielen. Schon damals sprachen wir über sein Fotoprojekt „Kunst machen“ und über seine erste Begegnung mit Erich Hauser im Rahmen dieser Dokumentation.

1986 startete Christoph Valentien sein Fotoprojekt. Er besuchte, ausgestattet mit Fotoapparat und Fragebogen 26 BildhauerInnen und MalerInnen, die zwischen 1930 und 1950 geboren wurden und in Südwestdeutschland leben. Daraus ist ein von einer Publikation begleitetes Projekt entstanden, das in der Landesgirokasse Stuttgart damals ausgestellt wurde. Die Ausstellung in der Kunststiftung trifft nun eine Auswahl aus diesem Fotoprojekt und fokussiert den Blick auf Porträt- und Atelierfotografien von Erich Hauser sowie seiner Bildhauerkolleginnen und Bildhauerkollegen Gerlinde Beck, Franz Bernhard, Gerda Bier, Wolfgang Bier, Jürgen Brodwolf, Christoph Freimann, Jürgen Goertz, Ingrid Hartlieb, Peter Jacobi, Ritzi Jacobi, Thomas Lenk und Reinhold Müller - alles bekannte Bildhauer der Region.

„Wie und unter welchen Umständen Kunst geschaffen wird, hat mich so interessiert, dass ich mich entschloss, das Projekt anzugehen“, so der Fotograf. Es war eine Fragestellung, die ihn als Künstler selbst sehr beschäftigte. Auch er suchte damals nach einer Antwort, warum das „Kunst machen“ so eine starke Antriebskraft für ihn darstellte. Das ist ein Bindeglied und ein Grund, warum wir in dieser Ausstellung sowohl  den Blick zurück auf seine Reportagefotografien von 1986 werfen und zudem eine Auswahl seiner neuen Arbeiten präsentieren. 

Das Kunstwerk – sei es die Skulptur, Zeichnung oder Malerei - erhält erst durch den Ortswechsel, vom privaten Atelier bzw. der Werkstatt hin zum Kunstmuseum oder zur Galerie seine öffentliche Präsenz und unsere Aufmerksamkeit. Wir, die Betrachter, sehen also in der Regel das fertige Werk, ohne Verweis auf den Entstehungsort und zumeist ohne genauen Hinweis auf den Herstellungsprozess. Das macht neugierig auf das in der Abgeschiedenheit des Ateliers stattfindende künstlerische Schaffen und den Ort der Produktion. Dieser wurde über Jahrhunderte hinweg nicht nur in seiner pragmatischen Funktion als Werkstatt oder gedankliches Laboratorium gesehen sondern in viel größerem Maße als ein Ort empfunden, an dem sich die individuelle künstlerische Identität ergründet lässt.

An den Besuch des Künstlerateliers oder der Werkstatt wird deshalb die Erwartung geknüpft, über die geistige und materielle Entwicklung des Werkes sowie die Persönlichkeit des Künstlers mehr Erkenntnisse gewinnen zu können. Atelier oder Werkstatt werden als „Wirkungsstätte des Genies“, „Kraftfeld der Mythen“, „Kultort der Selbstinszenierung“ und „sakralisierte Rückzugsstätte“ bezeichnet. Und es ist die Atelierfotografie, die sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Pompöses Ambiente und repräsentatives Auftreten der Künstler charakterisierten die inszenierten Atelieraufnahmen.  Zunehmend zeichnete sich dann im 20. Jahrhundert eine besondere Affinität zwischen Fotograf und Künstler ab. Es ging nun um die Begegnung mit dem Künstler in verschiedenen Arbeitssituationen, um einen Dialog im Atelier und darum dem Werkprozess einfühlsam fotografisch nachzuspüren.

Christoph Valentien wählt einen ganz eigenen Blick auf den Künstler, seine Wirkungsstätte und seinen Umgang mit der Kunst. Er schaut dem Künstler beim Kunst machen mit Abstand und einfühlsam über die Schulter. Denn es bedarf der besonderen Fähigkeit im Raum des arbeitenden Künstlers anwesend zu sein ohne bemerkt zu werden. Das heißt: Der Fotograf bewegt sich in einem nach Außen hin abgeschotteten Raum; es ist ein intimer, persönlicher und einsamer Ort, eine Art kreativer Schutzraum, in dem auch Zweifeln und Zögern beim Arbeiten zulässig sind und in dem der Künstler verletzlich ist. Christoph Valentiens Fotoarbeiten sind keine inszenierten Bilder sondern das Ergebnis einer rücksichtsvollen Beobachtung der Beziehung zwischen dem Künstler, seiner Arbeit am Kunstwerk und dem Atelierraum.

Wir sehen in dieser Werkschau, bis auf wenige Ausnahmen, Bildhauerrinnen und Bildhauer nicht, wie von dieser Berufsgruppe erwartet,  bei der Ausführung kraftvoller handwerklicher Tätigkeiten sondern eher beim konzentrierten Skizzieren, Betrachten, Ertasten  und Überprüfen ihrer Skulpturen. Es ist die uns unbekannte und stille Seite des künstlerischen Handelns, die wir beim Betrachten der Atelier- und Porträtaufnahmen wahrnehmen. Man könnte auch sagen, es ist der geistige, der kontemplative Raum, der spürbar ist. Zum Beispiel das Atelierfoto des Bildhauers Franz Bernhard: Er kniet und betrachtet sein Holzobjekt. Ein Moment des Innehaltens und kritischen Überlegens und die damit verbundene Suche nach der endgültige Form sind ebenso im Foto gegenwärtig wie die allmähliche Verwandlung des natürlichen  Werkstoffes Holz in ein abstraktes ästhetisches Gebilde.

Schauen wir in das Atelier von Jürgen Brodwolf: „Mein Atelier befindet sich im Speicher des alten Pfarrhauses von Vogelbach. Die Besucher aus der Stadt schwärmen von dieser lieblichen Schwarzwaldlandschaft. Mein Atelier liegt 650 Meter über dem Meer. 100 Meter höher beginnt  am Blauen das große Waldsterben. Von Basel wehen Chemieschwaden heran. In tödlicher Nähe ticken die Atomkraftwerke von Fessenheim, Gösgen und Leibstadt.“ Dieser Blick nach außen in die als bedrohlich empfundene Lebensrealität wirkt in den Innenraum seines Ateliers hinein. Im Vordergrund liegt eine große unfertige Skulptur, ein verdrehter, geschundener Körper. Inmitten von Farbflaschen, Eimern, Schalen und Skulpturen sitzt Jürgen Brodwolf  und skizziert. Er ruht in sich, aufmerksam und hochkonzentriert. Der Blick ist geschärft für den menschlichen Körper. Brodwolf faltet, quetscht und formt mit seinen Händen sein Material. „Die Hände als Werkzeug der Idee. Die Idee ist sichtbar geworden“, schreibt Nikolai Forstbauer im Katalog zu diesem Fotoprojekt.

Erich Hauser, dem wir in dieser Ausstellung einen eigenen Raum gewidmet haben, wird beim Gestalten von Zinkblechmodellen von Christoph Valentien fotografiert. Dieses Arbeiten im kleinen Format steht in einem krassen Gegensatz zu den großen mit Maschinen hergestellten Skulpturen. Wir sehen ihn beim feinfühligen Gestalten der formgewordenen Idee, bemerken sein spielerisches Ausprobieren, ahnen den geistigen Prozess der Entscheidungsfindung. Man kommt dem Menschen Erich Hauser näher und entdeckt die sensible Seite seines Wesens.

Auf den Atelieransichten, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, spielt der Raum eine große Rolle. Es sind  Räume voller Kunstwerke, fertiggestellte und halbfertige, verschiedene Werkstoffe, Farben, Werkzeuge und vieles mehr, mal geordnet, mal chaotisch verstreut, zumeist mit viel natürlichem Licht. Dazwischen, irgendwo, oftmals auch im Hintergrund hält sich der Künstler auf. Spiegeln die Atelierräume die individuelle Künstlerseele, frage ich mich. Ich denke schon. Gerlinde Beck könnte wahrscheinlich nie im Atelier von Jürgen Brodwolf arbeiten und Christoph Freimann nicht in dem von Jürgen Goertz. Nicht der große Wurf, das große heroisierte Einzelwerk steht im Mittelpunkt dieser Reportage sondern das Verhältnis von Künstler und Werk, das sich als ein Prozess der geistigen Auseinandersetzung  und anhaltenden Formsuche definiert. Christoph Valentien konzentriert seinen Blick auf das Be-greifen, d.h. auf das Zusammenspiel von Auge und Hand, von Idee und Material. Und dann schließlich das Ergebnis der künstlerischen Arbeit: „Es wird freigegeben für den Blick des Betrachters“, so Nikolai Forstbauer.

Der Blick des Betrachters: Christoph Valentien fordert uns zum lustvollen Sehen auf. So wie er durch den Sucher der Kamera die Objekte seiner Erforschung - Künstler, Kunst und Atelier - im Visier hat und es schafft eine Nähe zum Künstler und seinem Werk aufzubauen, so holt er in seinen künstlerischen Arbeiten (Scanogramme), die in der Werkstatthalle und im Aufgang zu sehen sind, die abgebildeten Objekte so nah wie möglich heran, und zwar durch Vergrößerung und ungewohnte Perspektiven. Dadurch verändern sie ihre Erscheinungsform und Materialität. Beispielsweise verwandelt sich Latex in durchscheinendes Glas; es wirkt zerbrechlich und leicht. Die Dinge schweben, raum- und zeitlose.

Sie wissen nicht, was Sie sehen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Denn es geht Christoph Valentien darum, Dinge unseres Lebens zu transformieren, ihnen eine neue Dimension, eine irritierende Wirkung oder eine ungewohnt poetische Ausstrahlung zu geben. Es sind berauschende schöne, auch naturhaft wirkende Gebilde, auf die sie in seiner Ausstellung treffen.

So kann ich Sie nur auffordern, Ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen und das zu sehen, was sie sehen möchten: ein skulpturales Ananasobjekt, eine Krone, Quallen, Ornamente. Nur noch Folgendes: Der zweite Grund, warum sich hier, übrigens zum ersten mal, wie der Künstler sagt, Reportagefotografie und künstlerische Scanogramme in der neuen Ausstellungsreihe „Solo für Hauser“ begegnen, liegt auch daran, dass seine Arbeiten in ihrer sinnlich-erotischen Dimension Erich Hauser eine Referenz erweisen möchten.

HEIDEROSE LANGER



nach oben

CHRISTOPH VALENTIEN HOME Pos1